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Brutalität gebiert Brutalität. Liebe gebiert Liebe.
Lady Anirul Corrino, Tagebucheintrag
Ein toter Wachmann mit blutgetränkter Uniform und einer Stichwunde in der Seite lag auf dem Boden eines Korridors in einem unteren Stockwerk des Palasts.
Herzog Leto überließ dieses Opfer den Männern, die ihm folgten, und rannte weiter. Er wusste, dass er nicht mehr weit von der Person entfernt sein konnte, die seinen Sohn entführt hatte. Er trat in die Blutpfütze, die sich rund um den getöteten Soldaten gebildet hatte, und hinterließ immer schwächer werdende rote Fußabdrücke. Er zog den Dolch mit dem Juwelengriff und hatte die Absicht, ihn einzusetzen, wenn es nötig war.
In einem der Spiel- und Arbeitszimmer der Prinzessinnen stieß er auf eine weitere Leiche, die einer Bene Gesserit. Er versuchte gerade, sie zu identifizieren, als die beiden Sardaukar an seiner Seite erschrocken aufkeuchten. Leto hielt den Atem an.
Es war Lady Anirul, die Gemahlin des Imperators Shaddam IV.
Die Ehrwürdige Mutter Mohiam, die ebenfalls ein schwarzes Gewand trug, erschien in der Tür. Sie betrachtete ihre Finger und sah dann ins wächserne Gesicht der Toten. »Ich bin zu spät gekommen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen ... ich konnte nichts mehr für sie tun.«
Mit lauten Stiefeltritten und Gepolter schwärmte Letos Trupp aus, um die Räume in der Umgebung zu durchsuchen. Leto war erstarrt und fragte sich für einen Moment, ob vielleicht Mohiam die Frau des Imperators ermordet hatte.
Mohiams Vogelaugen blickten in die Gesichter der Männer und erkannten die Frage, die darin geschrieben stand. »Natürlich habe ich sie nicht getötet«, sagte sie entschieden und mit einem winzigen Hauch der Stimme. »Herzog Leto, Ihr Sohn ist in Sicherheit.«
Er blickte sich im Raum um und entdeckte das Baby, das in eine Decke gehüllt auf einem Kissen lag. Mit weichen Knien ging der Herzog hinüber und war überrascht, wie zögernd er sich verhielt. Das neugeborene Kind war hellwach und hatte ein rotes Gesicht. Das schüttere Haar war schwarz wie Letos, und das Kinn erinnerte ihn an Jessica. »Ist das mein Sohn?«
»Ja, ein Sohn«, erwiderte Mohiam in einem Tonfall, der leicht verbittert klang. »Genauso, wie Sie es sich gewünscht haben.«
Er wusste nicht, warum sie ihre Worte so seltsam betonte, aber letztlich war es ihm gleichgültig. Er war einfach nur glücklich, dass sein Junge gerettet worden war. Er hob ihn auf und hielt ihn in den Armen. Er erinnerte sich daran, wie er Victor auf dieselbe Weise gehalten hatte. Ich habe wieder einen Sohn! Die hellen Augen des Kindes waren weit geöffnet.
»Stützen Sie den Kopf.« Mohiam ging zu ihm und legte das Baby in Letos Armen zurecht.
»Ich weiß selbst, was ich tun muss.« Er dachte daran, wie Kailea unmittelbar nach der Geburt von Victor dasselbe zu ihm gesagt hatte. Bei diesem Gedanken ging ein Stich durch sein Herz. »Wer war der Entführer? Haben Sie ihn gesehen?«
»Nein«, sagte sie ohne das geringste Zögern. »Er ist geflohen.«
Leto blickte die Ehrwürdige Mutter von oben herab an und fragte misstrauisch: »Und wie ist mein Sohn hierher gelangt, während der Entführer entkommen konnte? Wie haben Sie das Baby gefunden?«
Plötzlich wirkte die uralte Schwester gelangweilt. »Ich habe Ihren Jungen hier auf dem Boden gefunden, neben der Leiche von Lady Anirul. Sehen Sie ihre Hände? Ich musste ihre Finger aufbiegen, mit denen sie die Decke festhielt. Irgendwie hat sie das Kind gerettet.«
Leto sah sie an und ließ keinen Zweifel, dass er ihr nicht glaubte. Er konnte kein Blut an der Decke oder Kampfspuren am Baby entdecken.
Ein Sardaukar näherte sich und salutierte. »Entschuldigen Sie die Störung, Herr. Aber wir haben Prinzessin Irulan gefunden. Sie ist unversehrt.« Er zeigte in den Raum auf der anderen Seite des Korridors.
Ein Wachmann stand neben dem dreizehnjährigen Mädchen und bemühte sich unbeholfen, die Prinzessin zu trösten. Irulan trug ein Kleid aus braunem und weißem Damast mit dem Corrino-Wappen auf einem langen Ärmel. Sie war sichtlich erschüttert, aber sie schien besser mit der Tragödie umgehen zu können als der Wachmann. Was hatte sie gesehen? Die Prinzessin warf der Ehrwürdigen Mutter den nichtssagenden Blick einer Bene Gesserit zu, als würden die beiden eins der verfluchten Geheimnisse der Schwesternschaft teilen.
Ihr hübsches junges Gesicht war eine starre Maske, als Irulan herüberkam und die Wachmänner überhaupt nicht beachtete. »Es war ein Mann. Er war als Sardaukar verkleidet, und er hatte sein Gesicht geschminkt. Nachdem er meine Mutter getötet hatte, floh er. Ich konnte ihn nicht erkennen.«
Leto empfand tiefes Mitleid für die Tochter des Imperators, die reglos wie eine der zahlreichen Statuen ihres Vaters dastand. Sie legte eine bemerkenswert gefasste Haltung an den Tag. Trotz des Schocks und der Trauer hatte sie sich völlig in der Gewalt.
Irulan betrachtete die Leiche ihrer Mutter, während ein Wachmann sie mit einem grauen Tuch zudeckte. Keine Tränen traten in die hellgrünen Augen des Mädchens. Ihr Gesicht, das von klassischer Schönheit war, hätte aus Alabaster modelliert sein können.
Leto verstand sehr gut, was in ihr vorging, da er genau dasselbe von seinem Vater gelernt hatte. Trauere nur, wenn du allein bist, wenn niemand deine Schwäche beobachten kann.
Irulans und Mohiams Blicke trafen sich, als würden sie sich gemeinsam hinter einer Festung verschanzen. Die Prinzessin schien mehr zu wissen, etwas, das zwischen ihr und der uralten Ehrwürdigen Mutter bleiben sollte. Leto würde die Wahrheit vermutlich niemals erfahren.
»Wir werden den Verbrecher finden«, schwor der Herzog und hielt seinen Sohn fest an sich gedrückt. Die Wachen sprachen in ihre Komeinheiten und setzten die Durchsuchung des Palasts fort.
Mohiam sah ihn an. »Lady Anirul hat ihr Leben für Ihren Sohn geopfert.« Ihre Miene wurde verhärmt. »Erziehen Sie ihn gut, Herzog Atreides.« Sie berührte die Decke und drückte den Jungen an Letos Brust. »Ich bin überzeugt, dass Shaddam nicht ruhen wird, bis er an dem Mann, der seine Frau tötete, Gerechtigkeit geübt hat.« Sie trat zurück, als wollte sie ihn damit entlassen. »Gehen Sie. Kümmern Sie sich um Jessica.«
Leto zögerte misstrauisch, aber er wusste, wo seine Prioritäten lagen. Also verließ er das Zimmer stolz mit seinem Kind in den Armen und machte sich auf den Rückweg zum Entbindungsraum, wo Jessica auf ihn wartete.
Irulan ließ Mohiam nicht aus den Augen, aber sie tauschten nicht das leiseste Handzeichen aus. Niemand, nicht einmal Mohiam wusste, dass sich die Prinzessin versteckt und durch einen Türspalt beobachtet hatte, wie sich ihre Mutter für das Baby geopfert hatte. Sie war erstaunt, dass eine so mächtige und zurückhaltende Frau all das wegen eines neugeborenen Atreides auf sich genommen hatte. Wegen eines Kindes von einer simplen Konkubine. Konnte ihr Verhalten einen bestimmten Grund gehabt haben?
Was ist das Besondere an diesem Kind?